Ändern wir den Standpunkt, ändert sich die Bedeutung. Aus »404«

Ein außergewöhnlicher Dialog mit unerwartetem Resultat.


Dialog

»Endlich. Alles im Leben hat seine Zeit. Das sagt sich leicht dahin, denn es drückt nicht aus, in welcher Gestalt sie uns begegnet. Und es impliziert die Unabänderlichkeit, vermittelt den Eindruck, dass sie sich unserem Einfluss verweigert. Ich werfe alle Zweifel über Bord und sage dir, was ich schon seit Jahren vergeblich versucht habe. Lange genug hast du dich geweigert zuzuhören, jegliche Versuche ignoriert, so als gingest du mich nicht das Geringste an. Aber jetzt gibt es keine Ausflüchte mehr. Du wirst mir zuhören. Es ist die letzte Chance, dein Leben zu ändern, aus der Monotonie und Gleichgültigkeit auszubrechen. Ich habe lange auf diesen Moment gewartet, ringe nach Worten. Mir ist klar, dir wird es genau so schwerfallen, doch es gibt kein Entrinnen mehr, Abtauchen ins Vergessen oder Verschieben bis...«
»Wie redest du mit mir? Was habe ich getan?«
»Alles und nichts.«
»Das ist ein Widerspruch. Das verstehe ich nicht.«
»Du wendest alle Kräfte auf, jede Herausforderung zu meiden, die du besser in sie investierst. Du unternimmst nichts zur Erreichung von Zielen. Du realisierst nicht, die Zeit wird knapper. Bis heute verstrich sie ungenutzt. Was vermag es, dich zu motivieren, lässt unbekannte Stärke in dir wachsen? Verhindert Versagensangst das Lösen vom bequemen Unterlassen? Die Liste der Bemühungen ist kurz, umso länger die der verpassten Gelegenheiten. Mit welchen Erwartungen ans Leben handelst du? Was stelle ich für eine unsinnige Frage. Es ist eher eine Feststellung. Deine Situation beweist mir, du hast keinerlei Ansprüche, nicht einmal Wünsche. Wer oder was stand dir im Weg? Dein Lebensweg verläuft geradlinig von einer versäumten Chance zur nächsten. Mittelmäßigkeit heißt die Lebensanschauung. Was sagst du?«
»Die Umstände, die Umstände waren schuld. Meine unglückliche Kindheit, meine verkorkste Jugend.«
»Ja, ja. Um Ausreden warst du ja nie verlegen. Schluss damit! Du hast ja schon etliche Male die bisherige Untätigkeit verdammt, bist aber immer wieder in den alten Trott verfallen, unfähig, mal etwas Neues zu wagen. Sobald der Blick die Realität der für dein Gefühl unüberwindbaren Zäune streifte, suchtest du das Schneckenhaus auf. Du glaubst, dort bist du sicher und fühlst dich geborgen. Hast du dir nie mal vorgestellt, wie andere Menschen es fertig bringen, sich neuen Aufgaben zu stellen, ohne daran zu zerbrechen, nicht in einen immer offenen Abgrund zu stürzen oder mit Lädierungen für ihren Wagemut zu bezahlen? Du baust Hindernisse vor dir auf, als Rechtfertigung für Kapitulation. Selbst Schnecken verlassen hin und wieder ihr Haus. Die Welt, die du meidest, ist kein Abenteuerland, das darauf wartet, Besucher zu vernichten. Das Wort Abenteuer erhebt einen Anspruch, dem nur Wenige gerecht werden. Das, was dich
erwartet, erleben Millionen Menschen jeden Tag. Und sie beenden ihn mit einem zufriedenen Lächeln, dem Bewusstsein, existiert, teilgenommen
zu haben an den vielen kleinen und großen Herausforderungen, sie besiegt zu haben und befriedigt festzustellen, dass sie wieder einen Tag gemeistert haben.«
»Wer sagt, dass ich unglücklich bin? Ich brauche und suche keine Abenteuer oder Herausforderungen, wie du es nennst.«
»Welche Ängste beherrschen dich? Was behindert dein Handeln. Wir sind keine Steinzeit-Bewohner. Unser Leben ist geordnet, Gefahren, denen wir nicht gewachsen sind, gibt es nicht mehr. Ja, es stimmt. Falls ich eine Aufgabe annehme, ist der Ausgang stets ungewiss. Aber was passiert, wenn mein angestrebtes Ziel nicht geschafft wird. Ich lerne dazu. Erreiche ich etwas nicht, ist es kein Problem, denn es bleibt alles so, wie es vorher war. Übe ich Klavierspielen und es gelingt nicht, bleibe ich einer von vielen, die nicht Klavier spielen. Einen Schaden trage ich nicht davon. Die Lebenserfahrung lehrt uns, dass nicht alle Menschen gleichzeitig
Opernstar, Geigenvirtuose und Mathematikgenie sind. Lerne, eine negative Erfahrung zu überwinden und Kraft für eine neue Herausforderung daraus zu schöpfen.«
»Das ist ein blödes Beispiel. In Wirklichkeit begehe ich wieder einen Versuch, der mit Versagen endet. Es schadet dem Selbstvertrauen.«
»Sag das nicht. Unter Umständen gelangst du zu der Erkenntnis, dass dein Engagement nicht ausreichte, du nicht genug geübt hast. Fehlendes Talent benutzt du als häufigste Ausrede. Du sonnst dich in dem Irrglauben, dass den anderen alles zufliegt, was dir nicht zuteil wird.
Bevor jemand die Olympia-Medaille umgehängt bekommt, hat er viele Jahre hart trainiert. Das ist kein Geschenk, sondern die Belohnung für jahrelangen physischen und psychischen Aufwand.
Der Sieger gibt nicht auf, lernt aus seinen Fehlern. Diese Erfahrung fehlt dir. Und warum ist das so? Du bist nie über deinen lethargischen Schatten gesprungen, ergötztest dich an der Vermutung, dass du talentfrei bist. Es ist ein angenehmes Gefühl, sich zurückzulehnen. Aber nicht wegen selbstgefälliger ignoranter Erklärungen, sondern nach einer erbrachten Leistung. Macht es dir Angst, dass ich alle geheimen Schwächen kenne. Erschreckt es dich, dass ich Teile deines Charakters offengelegt habe, die du sorgfältig zu verbergen versucht hast? Merkst du langsam, dass ich dich durchschaut habe, genauso wie alle anderen es erkennen? Was löst diese Vorstellung in dir aus? Glaubst du, du wärest in der Lage, dein Versagen vor dir selbst geheim zu halten? Anderen etwas vorzumachen, ist leicht. Doch wie steht es mit dir? Du hast dich wie ein verdorrter Ast vom Strom treiben lassen, bist hier und dort am Ufer angestoßen, Blessuren zeichnen dich und du lässt es weiter geschehen, schwimmst ziellos. Wohin?.«
»Woher nimmst du die Gewissheit, mich zu kennen? Ich habe mit niemandem über deine Behauptungen gesprochen.«
»Das brauchst du auch nicht. Denn du bist ich und ich bin du. Den Dialog führte ich mit mir.«